09. Dezember 2023 12:00

Ökonomik Wie reformiert man ein Land, das nach 70 Jahren Misswirtschaft einen Anarchokapitalisten zum Präsidenten wählt?

Über das Abwägen von genommenen Privilegien und eröffneten Chancen

von Karl-Friedrich Israel

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Bildquelle: Bigc Studio / Shutterstock Krisenland Argentinien: Gelingt dem Land mit Milei eine Wende?

Im Juli reiste ich zur alljährlichen Sommerakademie an das Mises Institute nach Alabama. Ich hatte also einmal wieder die Gelegenheit, mit Studenten aus aller Welt, die sich für libertäre Ideen begeistern, in den Austausch zu treten. Der übliche Vorgang ist, dass man herzhaft über die Absurditäten des politischen Kasperletheaters lacht und sich über die Inkompetenzen und moralischen Abgründe der politischen Eliten in anderen Ländern auf den neuesten Stand bringt. Nur selten gibt es positive Ausblicke innerhalb des politischen Betriebs. Und ich, für meinen Teil, bleibe grundsätzlich skeptisch, wenn ein Politiker zum neuen Hoffnungsträger erklärt wird. 

Unter den Fellows des Instituts war in diesem Jahr auch eine Argentinierin, Doktorandin der Volkswirtschaftslehre an der University of Illinois Urbana-Champaign. Sie sagte mir mit großer Überzeugung, dass sie nach dem Sommer zurück nach Argentinien gehen werde, denn Javier Milei werde die Präsidentschaftswahl gewinnen. Er werde die nötigen Reformen einleiten, um Argentinien langfristig wieder dorthin zu bringen, wo es vor etwa 70 Jahren einmal gestanden habe. Argentinien war eines der reichsten Länder der Erde.

Ich hatte bereits vor einigen Jahren über einen guten Freund und Kollegen, der in Argentinien gelebt hatte, von Javier Milei gehört. Niemals hätte ich gedacht, dass er realistische Chancen auf die Wahl zum Präsidenten hat. Jemand, der so auftritt wie er, würde sich im politischen Betrieb in Europa sofort disqualifizieren. Außerdem schienen seine Ansichten einfach viel zu radikal, als dass eine Mehrheit ihn wählen würde. Pustekuchen! Am 19. November gewann er die Stichwahl gegen den Peronisten Sergio Massa mit 55 Prozent der Stimmen. Mit so großem Abstand hat noch niemals zuvor ein Kandidat die Wahl zum argentinischen Präsidenten gewonnen. Maria hatte recht.

Nun stellen sich zwei Fragen. Wie abgehoben und korrupt muss die Politik eines Landes sein, dass so etwas passieren kann? Und, ungleich wichtiger, was soll der neue Präsident tun? Wie reformiert man ein Land, das nach 70 Jahren Misswirtschaft einen Anarchokapitalisten zum Präsidenten wählt?

Jesús Huerta de Soto, Professor an der Universidad Rey Juan Carlos in Madrid, einer der bedeutendsten Vertreter der modernen Österreichischen Schule, kennt Javier Milei persönlich und hat ihn maßgeblich geprägt. An Professor Huerta de Sotos Rat, um die Politik einen großen Bogen zu machen, hat Milei sich zwar nicht gehalten, aber dennoch genießt er seine Unterstützung.

Huerta de Soto sagt über Milei, dass er gegenüber fast allen Politikern einen riesengroßen Vorteil habe, denn er versteht wirklich etwas von Ökonomie. Er kenne alle relevanten Argumente und könne seine Positionen gegen alle Kritiker verteidigen. Er sei all seinen Kontrahenten in den öffentlichen Debatten haushoch überlegen.

Die öffentliche Person Milei sei 50 Prozent Schauspiel und 50 Prozent ehrliche Ungeduld angesichts der Dummheit und Dreistheit seiner Gegner. Daher komme seine aggressive Art im Auftreten. Jedes Mal ließ Milei seine Konkurrenten wissen, was er von ihnen hält, und zwar zur besten Sendezeit im argentinischen Fernsehen: „And you know that I tell you besides everything else that you are a fucking lefty!“ Man wüsste gar nicht, wie man „fucking lefty“ („zurdos de mierda“ im spanischen Original) adäquat für eine deutsche Politdebatte übersetzen würde. „Sie verdammte linke Socke“ klingt einfach zu niedlich und „Scheiß-Linker“ zu hart. Das würde zumindest bislang in Deutschland niemand sagen, der sich Chancen auf die Kanzlerschaft ausrechnet. Aber jedes Mal, wenn Milei seine Gegner als „fucking lefty“ beschimpfte, habe er 100.000 Stimmen mehr für sich gewonnen, so Huerta de Soto. Die Argentinier hatten einfach die Nase voll vom üblichen Gewäsch.

Trotz seiner aufbrausenden Art sei es falsch, Milei in eine Kategorie mit Politikern wie Donald Trump zu setzen. Trump ist im Vergleich zu Milei tatsächlich „a fucking lefty“. Er will die staatliche Kontrolle über das Geld erhalten, künstlich niedrige Zinsen gewährleisten, Zölle und Handelsbeschränkungen implementieren und vieles mehr. Von all dem will Milei nichts wissen. Es scheint, als habe er im Gegensatz zu Trump Prinzipien oder, sagen wir, Überzeugungen. Er ist Anarchokapitalist. Diese Philosophie durchzieht sein gesamtes Programm.

Es ist klar, dass Milei, wenn er an diesem Standard gemessen wird, nur scheitern kann. Er wird kein anarchokapitalistisches System aus dem Hut zaubern können. Was kann man realistisch verändern, ohne auf zu große Widerstände zu stoßen? Diese Frage haben sich Anarchokapitalisten bisher nur in der Theorie gestellt. Die Grundsatzfrage lautet: Schocktherapie oder langsame Reform?

Die weise Empfehlung, die Professor Huerta de Soto gibt, lautet: beides. Schocktherapie überall dort, wo der Schock bereits kurzfristig mehr Chancen eröffnet, als er bestehende Privilegien nimmt. In Argentinien betrifft das, wie in vielen anderen Ländern zuvor, insbesondere Preiskontrollen. Der argentinische Peso hat seit Langem einen vom Staat gesetzten Wechselkurs zum US-Dollar, der fernab einer realistischen Markteinschätzung liegt. Es gibt deshalb einen florierenden Schwarzmarkt. Niemand, außer vielleicht einiger Touristen, tauscht US-Dollars gegen Pesos zum offiziell gesetzten Kurs. Jeder, selbst die Beamten und Bürokraten, nutzen für den Devisenwechsel die sogenannten Cuevas auf dem Schwarzmarkt. Langfristige Verträge und Transaktionen werden ohnehin nur in US-Dollar durchgeführt.

Milei kann durch die angestrebte Dollarisierung Argentiniens diesen Sektor der Schattenwirtschaft legalisieren, ohne auf große Widerstände zu stoßen. Damit würde er gewaltige wirtschaftliche Potenziale freisetzen, die in der mittleren Frist weitere graduelle Reformen ermöglichen. Die Devise muss dabei immer lauten: erst Chancen eröffnen, dann staatliche Zuwendungen streichen. Erst müssen die Arbeitsmärkte liberalisiert werden, dann kann man die Arbeitslosenversicherung kürzen. Erst müssen die Märkte dereguliert werden, bevor man Subventionen streicht. Wenn die Ideen des Anarchokapitalismus richtig sind, wird sich ein wirtschaftlicher Aufschwung ergeben, der die Härten der graduellen Abschaffung des Sozialstaats vergessen macht.

Huerta de Soto, Jesús (2023): Antwortet zu Fragen über Javier Milei, Instituto Juan de Mariana  


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