23. Februar 2024 19:00

Ein Blick auf Russlands Geschichte Was will Putin?

Das Märchen von der friedfertigen Sowjetunion

von Thomas Jahn

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Bildquelle: Al Munroe / Shutterstock Die ehemalige UdSSR war bis 1991 flächengrößter Staat der Erde: Plant Putin, Russland wieder zum Imperium machen?

Schade, dass Tucker Carlson die Chance verpasste, Wladimir Putin kritische Fragen zu stellen. Putins Beteuerung, keine weiteren Länder mehr angreifen zu wollen, hätte Carlson zumindest mit der Nachfrage kontern können, dass man diesen Friedensschwur ja auch am Vorabend des Einmarsches in die Ukraine vernehmen konnte. Was der russische Präsident wirklich will, konnte man indes begreifen, wenn man Putins langatmigen Ausflügen in die Geschichte aufmerksam zuhörte. Putin hat dabei sehr geschickt auch alte vorsowjetische, sozusagen klassisch russische Geostrategien wiederbelebt und den Eindruck vermittelt, als sei die Ukraine historisch immer schon ein Teil Russlands gewesen, der erst zu Sowjetzeiten künstlich geschaffen wurde. 

Für das Verständnis des Ukraine-Krieges und für ein halbwegs vernünftiges Interview hätte sich Herr Carlson vielleicht zumindest kurz mit der russisch-sowjetischen Politik der zurückliegenden Jahrzehnte und der Geschichte Russlands der letzten 200 Jahre beschäftigen sollen. Er hätte leicht herausfinden können, dass das Russische Reich vor 1914 ein Imperium, also ein klassisches Kolonialreich war, das sich vom britischen Empire oder dem französischen Kolonialreich nur dadurch unterschied, dass es eine zusammenhängende Landmasse von der Ostsee bis zum Pazifik unter seine Kontrolle gebracht hatte. In anachronistischer Weise wurde dieses Imperium nach 1917 und insbesondere nach dem Russischen Bürgerkrieg 1922 nur unter einem neuen Etikett und einer vermeintlich „fortschrittlichen“ Ideologie konserviert. Dabei übernahmen die Sowjetführer dieselben strategischen Expansionsziele, wie Peter der Große, Katharina die Große oder Zar Nikolaus II.: die Kontrolle über den Bosporus, den Zugang zur Nordsee und zu eisfreien Häfen oder den Zusammenschluss der slawischen Völker (Panslawismus). Hinzu kam seit 1945 das strategische Ziel „Eurasien“, also die Abkoppelung Mittel- und Westeuropas von Nordamerika. Die Ziele blieben gleich, nur die Flaggen änderten sich. Womit russische Nationalisten 1914 den Ersten Weltkrieg auslösten, wurde ab 1917 unter neuer Flagge als angebliche „sozialistische Friedensmacht“ zur Befreiung der Arbeiter von ihrem kapitalistischen Joch und nun seit Putins Amtsantritt im Jahr 2000 wieder unter dem weiß-blau-roten Banner als Befreiung vom Joch der Nato verkauft. Genauso wie die Briten in Indien bis 1947 nach dem Prinzip des „Teile und Herrsche“ Hindus gegen Moslems ausspielten, gingen auch die Sowjets vor und traten damit erfolgreich das Erbe der Zaren in allen „Nationalitätenfragen“ an. Putin hat diese Politik nicht erfunden, sondern nur von seinen kommunistischen Vorgängern Gorbatschow, Breschnew, Chruschtschow und Stalin übernommen. Man schürt künstlich Konflikte zwischen den Ethnien und Religionen, wie zum Beispiel zwischen Armeniern und Aserbaidschanern. Man siedelt Russen in der Peripherie des „Reiches“ an, zum Beispiel wie in Moldawien oder den Baltischen Staaten nach 1945 geschehen, um künstliche ethnische Minderheiten zu schaffen, die für ein russisches Eingreifen instrumentalisiert werden können, wovon auch die Konflikte in Georgien (Südossetien) und Moldawien (Transnistrien) zeugen. Für den Ukraine-Konflikt hat Moskau ebenso die russischen Minderheiten in der Ostukraine und auf der Halbinsel Krim aktiviert. Warum viele Deutsche trotzdem weiterhin mit Putin sympathisieren und seine durchsichtige, gleichsam völlig anachronistische Politik der Wiederherstellung des russischen Kolonialreichs nicht sonderlich anstößig finden und auf das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Völker pfeifen, erscheint mehr als rätselhaft. Es handelt sich bei diesen, meist der AfD, der SPD, den Grünen oder der Linkspartei nahestehenden Zeitgenossen, meist um dieselben Leute, die gleichzeitig die – in der Tat völlig verfehlte – Interventionspolitik der US-Regierung unter den Administrationen von Bush junior und Obama zu Recht kritisieren. Und worin liegt eigentlich die Logik derjenigen, die meinen, man müsste sich wegen diverser Fehlentwicklungen in der US-Außenpolitik seit Clinton, Bush junior, Obama und Co ohne Wenn und Aber auf die Seite Russlands stellen? Wenn man fast alle Entwicklungen in der westlichen Welt seit Amerikas Aufstieg zur Supermacht abgelehnt hat, warum sollte man sich dann eigentlich auf die Seite von Regierungen schlagen, die im Falle Moskaus und Pekings aus lupenreinen Kommunisten besteht? Werden hier die Fehler des Zweiten Weltkriegs wiederholt, als man meinte, den Teufel (Hitler) mit dem Beelzebub (Stalin) austreiben zu können? Wenn es eine Lehre aus den verhängnisvollen Fehlentwicklungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gibt, dann die, dass sich die Freiheit nicht im Verein mit kommunistischen Autokraten verteidigen lässt.

Traurig auch, dass immer noch so viele Deutsche auf die ewig gleichen sowjetischen Propagandatricks hereinfallen, die Putin als KGB-Offizier und Angehöriger der sowjetischen Nomenklatura natürlich aus dem Effeff beherrscht. Der Trick ist seit 75 Jahren übrigens folgende Dauerschleife: Seit Stalins Berlin-Blockade ist erstens immer der „aggressive“ Westen Schuld, wenn Moskau zur Waffe greifen muss, und zweitens zielt die sowjetisch-russische Drohung, man sei bereit, Kernwaffen einzusetzen, auf genau jene degenerierten Teile der westlichen Öffentlichkeit, die jegliche Art von Freiheit und Selbstachtung längst gegen eine Art staatssozialistische Vollbetreuung und vorauseilende Selbstunterwerfung inklusive jahrelang gepflegten Schuldkult getauscht haben. Was haben die von Moskau vom Zaun gebrochenen Kriege, der Korea-Krieg (1950–1953), der Einmarsch in Ungarn (1956), in die Tschechoslowakei (1968), in Afghanistan (1979–1989), in Syrien (seit 2015), die Tschetschenien-Kriege (1994–1996 und 1999–2009), der Angriff auf Georgien (2008) oder der Einmarsch auf der Krim und in der Ostukraine (2014) gemeinsam? In keinem einzigen Fall brauchte Moskau einen wirklichen Grund. In keinem einzigen Fall war Moskaus Sicherheit auch nur annähernd bedroht. Wer immer noch von einem „neuen Kalten Krieg“ spricht, verkennt die Lage. Es ist längst ein heißer Krieg. Putin verhandelt nicht, weil er keine Lösung will, sondern testet, wie seine sowjetischen Vorbilder aus, wie weit er gehen kann, um eine Revision des historisch verdienten Zusammenbruchs des Sowjet-Imperiums zu erreichen. Wer Frieden will, muss endlich die unbequeme Wahrheit akzeptieren, dass Beschwichtigungspolitik Krieg und Aggression erst ermöglicht hat.

Apropos Bedrohung Russlands durch die Nato: Auch diese Geschichtslüge ist ähnlich wie das Märchen von der friedfertigen Sowjetunion rasch entlarvt.

Das Sowjetimperium, dessen Zusammenbruch Putin in seiner berühmten Rede aus dem Jahr 2005 als „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bedauerte und das er folglich wieder errichten möchte, wurde nicht durch „Dialog und Vertrauensbildung“ und erst recht nicht durch die „Kniefallpolitik“ eines Willy Brands zur Aufgabe gebracht, sondern durch die mutige und entschlossene Abwehrbereitschaft des Westens, die aufrechte Freiheitsfreunde wie Ronald Reagan und Margaret Thatcher mithilfe der atomaren Nachrüstung und der Unterstützung anti-kommunistischer Freiheitskämpfer realisiert haben. Dadurch wurde die UdSSR in ein Wettrüsten gezwungen, das sie wirtschaftlich nicht überlebt hat. Dass der Westen die Aggressionspolitik Stalins, Breschnews und Co nicht schon viel früher gestoppt hat, war ein verhängnisvoller Fehler und hat das Leid der unter das kommunistische Joch gezwungenen Menschen unnötig verlängert.

Nach dem Untergang der Sowjetunion hatte der Westen das „neue“ Russland als gleichberechtigten Partner behandelt und Moskau eine einzigartige privilegierte Rolle im Nato-Gefüge eingeräumt, was 1997 in der Unterzeichnung der Nato-Russland-Grundakte über die gegenseitigen Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit gipfelte. Im Rahmen dieser Grundakte wurden als Institutionen der „Ständige Gemeinsame Nato-Russland-Rat“ geschaffen und 2002 mit dem „Nato-Russland-Rat“ (NRR) gefestigt. Im Gegenzug hatte sich die russische Regierung mit der Osterweiterung der Nato einverstanden erklärt. Seit Gründung des NRR haben die Nato und Russland auf vielen Gebieten zusammengearbeitet, von der Drogen- und Terrorismusbekämpfung bis hin zur U-Boot-Rettung und zivilen Notfallplanung. Keinem anderen Partner wurde eine vergleichbare Beziehung angeboten. Die Behauptung, die Nato hätte versucht, Russland auszugrenzen, ist daher ein leicht widerlegbares Märchen. Das Gegenteil ist richtig: Russland wurde von der Nato nach 1991 als bevorzugter Partner behandelt.

Aber zurück zur Ukraine: Am 1. Dezember 1991 fand im heutigen Staatsgebiet der Ukraine eine Volksabstimmung ab, bei der über 90 Prozent (!) der Abstimmungsteilnehmer für die Unabhängigkeit des Landes gestimmt hatten. Auch in der Ostukraine stimmten über 80 Prozent für die Unabhängigkeit und mit 54 Prozent war es sogar eine deutliche Mehrheit auf der Halbinsel Krim.

Drei Jahre später erhielt die Ukraine in Budapest im Rahmen der dort stattfindenden KSZE-Konferenz umfangreiche Sicherheitsgarantien. Der von Russland, Großbritannien, den USA, Kasachstan und Weißrussland unterzeichnete, als Budapester Memorandum bezeichnete Vertrag sah vor, dass die Ukraine ihre Nuklearwaffen an Russland übergibt und im Gegenzug die Garantie der Unverletzlichkeit ihres Territoriums erhält. Die Ukraine hat sich an den Vertrag gehalten. Russland hat ihn 2014 mit dem Einmarsch in die Ostukraine und mit der Besetzung der Krim gebrochen, ebenso die USA und Großbritannien, die die Ukraine schon damals im Stich ließen. Man kann verstehen, dass es viele ukrainische Politiker mittlerweile leid sind, im Westen ständig um Waffenhilfe zu betteln. Hätte die Ukraine 1994 nicht auf den Westen vertraut und ihre Nuklearwaffen aus sowjetischen Beständen behalten, wäre ihr der russische Einmarsch 2014 und der seit 2022 tobende Krieg erspart geblieben.

Schade, dass Tucker Carlson nicht einmal die Geschichte der letzten 30 Jahre kennt, die er ja eigentlich selbst erlebt haben müsste, und schade, dass er Putin nicht auf den Bruch des Vertrages von Budapest angesprochen hat. Aber vielleicht führt Carlson demnächst ja ein Interview mit den Ex-Kanzlern Schröder und Merkel. Vielleicht erfahren wir dann, warum Gerhard Schröder die deutsche Energieversorgung auf russisches Erdgas umstellte und Angela Merkel auf dem Nato-Gipfel in Bukarest im April 2008 die Aufnahme der Ukraine in die Nato verhinderte.


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