15. März 2024 11:00

Weltliteratur Der Triumph der menschlichen Gemeinheit

80 Jahre nach „The Road to Serfdom“ (Teil 11)

von Carlos A. Gebauer

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Bildquelle: Gargonia / Shutterstock Ein Triumph besonders perfider Gemeinheit während der Plandemie: Kindern die Luft und Lebensfreude nehmen

In den 1930er Jahren herrschte unter den britischen Intellektuellen nicht nur das Gefühl, der „Kapitalismus“ habe mit der Weltwirtschaftskrise gezeigt, dass dieser notwendigerweise in ein gesellschaftliches Chaos münde. Blicke auf den spanischen wie italienischen Faschismus, auf den deutschen Nationalsozialismus und den sowjetischen Kommunismus machten auch klar, dass es nicht erstrebenswert sein konnte, diese Modelle zu kopieren. Der Diskurs tendierte also dahin, einen wohl geplanten Sozialismus eigener Art zu schaffen. Hätte es den Begriff des Prager Frühlings von 1968 schon gegeben, wäre man wohl bereit gewesen, das angestrebte Ziel als einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu beschreiben.

Namentlich an der von den sozialistischen Fabianern gegründeten und beherrschten London School of Economics, an der sich Hayek schon vor der Abfassung der „Road to Serfdom“ viele Jahre aufgehalten hatte, glaubten Gesellschaftsingenieure lange, es lasse sich notfalls auch ein unumschränkter Herrscher finden, der – mit der richtigen Geisteshaltung – für alle Gutes bewirken werde. Dieser Kontext erhellt die Sätze Hayeks: „Wir bekommen bereits heute zu hören, dass Totalitarismus ein machtvolles System zum Guten wie zum Bösen sei und dass es ausschließlich von den Diktatoren abhänge, zu welchem Zweck es gebraucht werde. Alles spricht [aber] dafür, dass die Dinge, die uns als die übelsten Seiten der heutigen totalitären Systeme in die Augen fallen, keine zufälligen Nebenprodukte sind, sondern Erscheinungen, die der Totalitarismus früher oder später unweigerlich hervorbringen muss. Wer das nicht sieht, hat noch immer nicht begriffen, welch tiefer Abgrund den Totalitarismus von einem liberalen Regime trennt.“

Es liege auf der Hand, dass Menschen, die massenweise in halbmilitärische Organisationen gezwungen werden, in denen sich ihr Privatleben auflöst, infolge dieser Sozialisation auch andere Moralanschauungen entwickeln. Die Hoffnung, es werde sich wie von Geisterhand in den Millionengesellschaften eine steuerungsfähige Majorität entwickeln, die dann ganz automatisch das allgemein Gute herbeiführe, müsse sich notwendig als trügerisch erweisen. Fehle es aber über eine gewisse Zeit an einer solchen Zufriedenstellungsmehrheit, werde die Frage im Raum stehen, wie eine solche wirkmächtige Gruppe konstituiert werden könne und wer derjenige sei, der sie realisiere.

An diesem Punkt beschreibt Hayek drei Funktionsmechanismen, die erwarten lassen, dass sich eher die schlechtesten und nicht die besten Charaktere an die Spitze setzen werden: Erstens dominiert absehbar jene Gruppe, die die niveauloseste ist – denn sie ist die größte. Zweitens werden in diesen Gruppen jene bevorzugt, die nicht über eigene starke Überzeugungen verfügen – denn sie lassen sich einem konfektionierten System am leichtesten anpassen. Und drittens wird das Motivationsschema innerhalb dieser Gruppe eines sein, das auf die Abgrenzung von einem emotional stark abgelehnten Gegner ausgerichtet ist – denn es ist einfacher, Menschen von etwas Ungewolltem negativ zu distanzieren, als sie für etwas Gewolltes positiv zu begeistern.

An dieser Stelle stoße jede Art von Kollektivismus an eine eigentümliche systematische Grenze. Die Herbeiführung eines nötigen Einheitswillens erfordere Voraussetzungen, die es in der Realität nicht gibt: „Wenn man an die Gemeinschaft der Ziele und Interessen unter den Menschen glaubt, so dürfte man ein größeres Maß von Gleichförmigkeit der Gedanken und Anschauungen voraussetzen, als es in Wahrheit unter ihnen existiert. Daher ist ein Weltkollektivismus unvorstellbar, es sei denn in der Hand einer kleinen herrschenden Elite. Es würde gewiss nicht nur technische, sondern vor allem auch moralische Probleme aufwerfen, denen jeder Sozialist aus dem Wege geht.“

Auch hier erweisen sich die Darlegungen Hayeks aus der Sicht des Jahres 2024 wieder als durchaus prophetisch. Denn die aktuellen Bestrebungen in der Uno wie auch insbesondere in der WHO zeigen genau diese Konstituierung einer solchen „kleinen herrschenden Elite“, die ihre kollektivistischen Ideen über den ganzen Globus ausweiten möchte. Der Dissens dieses kleinen Kreises mit den Überzeugungen der übrigen Welt ist jedoch nicht auszuräumen: „Einer der unlösbaren Widersprüche der kollektivistischen Philosophie besteht darin, dass der Kollektivismus, der sich doch auf die vom Individualismus entwickelte humanistische Ethik stützt, in der Praxis nur innerhalb kleiner Gruppen möglich ist. Weil der Sozialismus in der Theorie zwar internationalistisch ist, aber sich in Nationalismus überschlägt, sobald er in die Tat umgesetzt wird, ist ein ‚liberaler Sozialismus‘, wie ihn sich die meisten westlichen Länder vorstellen, reine Theorie, während die Praxis des Sozialismus überall totalitär ist.“

Das von Hayek hier skizzierte „Überschlagen“ aller kollektivistischen Theorie in Partikularinteressen findet aktuell eine neue Gestalt unter dem Namen einer „multipolaren Welt“. Die Idee, den gesamten Globus in ein Umverteilungssystem zu transformieren, scheitert an den nationalen oder nationalverbündeten Staatseinheiten. Der Drang des Individuums, sich mit einer Gruppe zu identifizieren, entspringe im Übrigen regelmäßig einem individuellen Unterlegenheitsgefühl. Der Drang zur Gruppe wird daher am ehesten befriedigt, wenn Gruppenzugehörigkeit „eine gewisse Überlegenheit gegenüber Gruppenfremden verleiht“.

Für einen ehemaligen Studenten an der London School of Economics, die – wie beschrieben – von dem Ehepaar Sidney und Beatrice Webb und George Bernhard Shaw mit den Fabianern gegründet worden war, sind weitere Passagen des Kapitels von bemerkenswerter Klarheit. Hayek zitiert aus einem Bericht des französischen Historikers Élie Halévy die Sätze „[Das Ehepaar Webb] war im tiefsten Wesen antiliberal. Das Ehepaar und Bernhard Shaw bildeten eine Gruppe für sich. Ich höre noch, wie Sidney Webb mir auseinandersetzte, dass die Zukunft den zentralverwalteten Großstaaten gehöre, die durch Büros regiert würden und in denen die Ordnung von Gendarmen aufrechterhalten würde.“ Und Hayek selbst formuliert weiter: „Halévy zitiert an anderer Stelle George Bernhard Shaw, der behauptet, dass die Welt notwendigerweise den großen und mächtigen Staaten gehört, denen sich die kleinen bei Strafe ihres Untergangs anschließen müssen.“

Die Formulierung Élie Halévys, Sidney Webb habe von Staaten geträumt, die durch Büros regiert würden, erinnert – ganz abseits der Beschreibungen Hayeks – an einen Bericht Hans Magnus Enzensbergers in seinem Essay „Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas“ aus dem Jahr 2011. Jean Monnet habe in den frühen Jahren der europäischen Gemeinschaften die Vision geäußert, ihm werde es ohne Weiteres möglich sein, dereinst ganz Europa mit nur einer Sekretärin und einem Telefon zu regieren. Möglicherweise ist die heute so radikal betriebene Digitalisierung allen Lebens also nur eine technisch fortgeschrittenere Variante derartiger Herrschaftsphantasien.

Über die Gefahren des Missbrauchs solcher Machtpotenziale schreibt Hayek weiter: „Während den großen Sozialphilosophen des Individualismus im 19. Jahrhundert Macht als solche immer als das schlechthin Böse erschienen ist, ist sie für den doktrinären Kollektivisten Selbstzweck. In der Marktwirtschaft gibt es niemanden, der auch nur einen Bruchteil der Macht innehätte, die eine sozialistische Planbehörde besitzen würde. Dezentralisierung der Macht muss notwendigerweise die absolute Gesamtsumme der Macht vermindern und die auf dem Wettbewerb beruhende Marktwirtschaft ist das einzige Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das darauf gerichtet ist, durch Dezentralisierung die Macht des Menschen über den Menschen auf das Mindestmaß herabzusetzen.“

Auch hierfür bietet die jüngere Geschichte demjenigen, der 80 Jahre nach Erscheinen des Werkes zurückblickt, verlässliches empirisches Anschauungsmaterial: Nur mithilfe staatlicher Machtinstrumentarien konnte es gelingen, während der „Pandemie“ einen abschließenden Kanon von Arzneien in den Markt zu bringen. Hätte echter Wettbewerb geherrscht, wären die gesehenen wirtschaftlichen Machtagglomerationen niemals so entstanden. Der Zweck der öffentlichen Gesundheit rechtfertigte den radikalen ordnungspolitischen Zwangseingriff in den Gesundheitsmarkt. Auch dies war von Hayek bereits in der Theorie beschrieben: „Der Grundsatz, dass der Zweck die Mittel heiligt, erscheint nach der individualistischen Ethik als die Negierung jeder Moral, aber in der kollektivistischen Ethik wird er notwendigerweise zur obersten Norm. Es gibt buchstäblich keine Handlung, zu der der konsequente Kollektivist nicht bereit sein muss, wenn sie dem ‚Wohle des Ganzen‘ dient, denn das ‚Wohl des Ganzen‘ ist für ihn das einzige Kriterium des Sollens.“

Machtstellungen, resümiert Hayek, haben wenig Anziehendes für Menschen mit moralischen Überzeugungen. Folgerichtig gibt es im Kollektivismus „die große Gelegenheit für die Rohlinge und Gewissenlosen“, Dinge zu tun, von denen sie wissen, dass sie verwerflich sind, die aber hier vollführt werden dürfen, weil sie „für ein höheres Ziel getan werden müssen“. Im Ergebnis „wird die Bereitschaft zum Bösen ein Weg zu Aufstieg und Macht“.

Mit dem Schlussabsatz des Kapitels leitet Hayek über zur Frage des folgenden Kapitels nach dem Ende der Wahrheit: „Das Problem der Auswahl der Führer hängt eng mit dem umfassenden Problem zusammen, wie sich eine Auswahl nach der Gesinnungstüchtigkeit oder besser gesagt danach vollzieht, wie rasch sich der Einzelne der ständig wechselnden Weltanschauung anpasst. Dies aber führt zu einem der wichtigsten moralischen Kennzeichen des Totalitarismus: seinem Verhältnis zu all jenen Tugenden, die wir unter dem Begriff der Wahrhaftigkeit zusammenfassen.“

(wird fortgesetzt)


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